Sublimierung und produktive Bedürfnisse

Letzten Monat habe ich im Zug auf der Rückfahrt aus Berlin einer jungen Frau geholfen ihr Cello im Gepäckfach zu verstauen. Wir kamen in ein interessantes Gespräch und es stellte sich heraus, dass sie Solo-Cellistin ist. Wir unterhielten uns über Körperwahrnehmung, emotionalen Ausdruck und Disziplin. Sie erzählte mir, wie sie nach einem Konzert immer das Gefühl von emotionaler Leere hätte, das Gefühl „ihre Emotionen dem Publikum geschenkt zu haben“. Es wäre ihr sehr wichtig genau mit dieser Emotionalität bei den Menschen zu landen und die entsprechenden Rückmeldung zu erhalten. Sie beschrieb auch, wie viele von ihren Kommilitonen in der Ausbildung genau in diesem Punkt gescheitert und verzweifelt seien. Sie beschrieb die Disziplin, die notwendig ist, um über Jahre hinweg 5- 8 Stunden, sechsmal pro Woche (auch im Urlaub) zu üben. Ich spürte wie wichtig die Musik für ihr Leben sein musste. Auf der anderen Seite erzählte ich ihr von meiner Ausbildung zum Körpertherapeuten. Sie war fasziniert von der Möglichkeit alte, kindliche, sogar pränatale Gefühle wieder aufleben zu lassen, und erzählte mir ausführlich von dem Verhältnis zu ihrem Vater. Mir wurde in dieser Schilderung deutlich, wie sehr sie die Musik gebraucht hat um aus der schwierigen familiären Konstellation heraus zu kommen. Auf der anderen Seite wurde mir aber auch deutlich, dass sie ihre musikalischen Leistungen – mit der Energie der Verzweiflung – niemals hätte vollbringen können, wenn sie frühzeitig in Therapie gegangen wäre. Es gibt die These, dass Menschen, die besondere kulturelle Leistungen erbringen, genau diese Fähigkeiten verlieren würden, wenn sie ihre primären (sinnlich-vitalen) Bedürfnisse einfacher ausleben könnten. Kulturelle und gesellschaftliche Leistungen, die mit Verzicht, Disziplin und Arbeit verbunden sind, sind sie immer energetische Anleihen an viel ursprünglichere Bedürfnisse? Die Psychoanalyse geht davon aus, das auch bei anderen `Vielarbeitern` in unserer Gesellschaft, z.B. Managern, Selbstständigen, usw. solche Sublimierungen notwendig sind, um die nötigen Kraftreserven bereitzustellen. Psychologie, Fachgebärdenlexikon: Definition: Unter Sublimierung versteht man die Umwandlung des (unbefriedigten) Geschlechtstriebs (s. Geschlecht, Trieb) in eine geistige Leistung. Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse. Nach S. FREUD versteht man darunter die Umlenkung von sexueller Triebenergie (s. Libido) in kulturell wertvolle und sozial anerkannte Verhaltensweisen (s. Kultur, Wert, Verhalten). Beispiel: Ein Kind spielt gerne mit seinem Kot und wird von den Eltern daran gehindert. Als Reaktion auf dieses Verbot kann später eine zwanghafte Sauberkeit eintreten (s. Zwang) oder aber eine Vorliebe für das Malen sowie andere künstlerische Tätigkeiten entstehen. Was sind nun ‚produktive‘ Bedürfnisse?“… So müssen wir also auch auf menschlichem Niveau von zwei Bedürfnissystemen ausgehen, die sich auf der Grundlage biologischer Entwicklungspotenzen herausgebildet haben: auf der einen Seite stehen die Bedürfnisse, die die emotionale Grundlage für Kontrolle der Lebensbedingungen, das heißt – auf menschlichem Niveau – für die Tendenzen zur Teilhabe an gesellschaftlicher Realitätskontrolle und kooperativer Integration bilden. Dieses Bedürfnissystem wird von uns mit dem Terminus der produktiven Bedürfnisse umschrieben… Den produktiven Bedürfnissen stehen als zweites Bedürfnissystem Bedürfnisse gegenüber, die sich nicht auf die gesellschaftliche Absicherung der individuellen Existenzerhaltung beziehen, sondern in denen sich die individuelle Mangel- und Spannungszustände selbst ausdrücken, für deren Reduzierbarkeit durch die Teilhabe an gesellschaftlicher Realitätskontrolle vorgesorgt werden soll, die also Indikatoren für die unmittelbare Gefährdung, Beeinträchtigung oder ähnlichen der individuellen Existenz sind. Diese Art von Bedürfnissen, die aus den geschilderten Bedarfszuständen auf tierischem Niveau hervorgegangen sind, sollen sinnlichvitale Bedürfnisse bezeichnet werden… “ (Ute Holzkamp-Osterkamp, Seite 23) Zu den sinnlich-vitalen Bedürfnissen gehören also z.B.: Nahrungsmangel, Flüssigkeitsmangel, Mängel in der Temperaturregulation und Bedürfnisse aus dem Funktionskreis der Fortpflanzung. Gerade die sexuellen Bedürfnisse bieten sich für die Sublimierungen besonders gut an, da diese auch längere Zeit unterdrückt werden können ohne das Individuum direkt körperlich zu schädigen. Was aber ist mit den produktiven Bedürfnissen, sie kommen in der Körperpsychotherapie bisher nicht vor. Was ist mit dem Bedürfnis sein Leben auch langfristig materiell abzusichern, Karriere zu machen, einen anerkannten Status zu haben? Geld, Macht, das Streben nach intellektueller Erkenntnis? Musik, Kunst……. Werden diese Punkte ausgegrenzt, oder sind sie im Rahmen der Therapie nicht bearbeitbar? Tritt das Bedürfnis nach existentieller Absicherung in den Hintergrund, wenn ich emotional mehr fließen kann? Es erfolgt in der Literatur zur Körpertherapie immer wieder der lakonische Hinweis: die Umsetzung der neu gemachten Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit müsse in der „Realität“ erfolgen, „die Integration dieses Entwicklungsprozesses des Einzelnen in sein soziales Umfeld von Familie, Beruf und Gesellschaft sei zu unterstützen“ (siehe unten), doch hier zeigt sich die Komplexitätsreduktion. Menschen sind gesellschaftliche Lebewesen, d.h. nur in einem gesellschaftlichen Zusammenhang kann der Mensch alle seine Fähigkeiten entwickeln. Er hat also nicht nur für sein eigenes Gedeihen, sondern auch für die Anderen zu sorgen. Das bedeutet, es gibt respektable Bedürfnisse sich nicht nur in seiner unmittelbaren Umgebung – wie z.B. der Familie – einzumischen, sondern auch in größeren Zusammenhängen, heutzutage sogar in globale. Green schreibt dazu in seinem Artikel über ‚Die tote Mutter‘: „Das Kind hat die grausame Erfahrung seiner Abhängigkeit von den unterschiedlichen Stimmungen seiner Mutter gemacht. Fortan widmet es sein Bemühen dem Voraussagen oder Vorwegnehmen. Die gefährdete Einheit des nunmehr durchlöcherten Ich verwirklicht sich entweder auf dem Feld der Fantasie, was dem künstlerischen Schaffen Tür und Tor öffnet, oder, bei einer entsprechenden intellektuellen Begabung, auf das Feld der Erkenntnis. Dabei geht es ganz deutlich um einen Versuch, die dramatische Situation zu bewältigen. Dieser ist allerdings zum Scheitern verurteilt. Nicht, dass er dort scheitert, wohin er Schauplatz und Handlung verlagert hat… Sein Scheitern liegt an anderer Stelle: Die Sublimierungen offenbaren bald ihre Unfähigkeit, eine ausgleichende Rolle in der psychischen Ökonomie zu spielen. Das Objekt bleibt an einem bestimmten Punkt verletzbar: in seinem Liebesleben. An dieser Stelle löst die Wunde erneut psychischen Schmerz aus, und schon kann man erleben, wie die tote Mutter aufersteht: sie löscht, solange die Krise dauert und in deren Verlauf sie in den Vordergrund der Szene zurückkehrt, alle sublimatorischen Fähigkeiten aus, die zwar nicht ganz verloren, aber doch momentan blockiert sind.“ (Seite 218) Green schränkt hier die sublimatorischen Leistungen ganz gewaltig ein und ich kann dem nur zustimmen. Diese psychoanalytische Idee ist mit meinem Verständnis vom Energiehaushalt des Menschen nicht vereinbar. Die sublimatorischen Fähigkeiten sind nicht von Dauer und können höchstens in bestimmten Lebensphasen einen Kreativitäts oder Arbeitsschub bewirken. Für die langfristige Absicherung des Menschen macht es Sinn wirklich eigenständige Bedürfnisse in Richtung auf perspektivischer Absicherung der eigenen Existenz anzunehmen. In der psychoanalytischen und körpertherapeutischen Literatur herrscht ein eher negatives Verständnis von kulturellen Einflüssen vor. Es wird oft von kultureller Deformation o.ä. gesprochen weniger von kulturell notwendigen Leistungen, die ein Individuum erbringen muss. Dieses „gehemmte Wachstum“ ist nicht genetisch festgelegt „der Körper weiss schon was gut ist“, sondern muss sich in der jeweiligen Situation angeeignet / entwickelt werden. Es kann in bestimmten gesellschaftlichen Situationen durchaus Sinn machen einseitige Fähigkeiten herauszubilden, andere zu hemmen.Was mir fehlt ist ein positives, dialektisches Verständnis von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung. Es herrscht in der psychoanalytischen Literatur ein eher negativrezeptives Verständnis von Gesellschaft vor, es wird nicht im Vordergrund betrachtet wie wir als Einzelne auch Einfluss auf diese Gesellschaft nehmen können, wo unsere Macht liegt, wie wir die Bedingungen auch in unserem Sinne positiv gestalten können. Der Hinweis auf das Vertrauen, auf das Wachstum des Körpers, ist mir zu wenig. Denn ich denke das eben solche Aspekte wie Arbeit und Disziplin, auch wenn sie im Wortschatz der Körpertherapie nicht vorkommen, notwendig für gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen sind. Dennoch ist diese Form der Psychotherapie gut begründet in ihren Methoden und jahrelang erforscht in ihrer Wirksamkeit, ich denke wir können die positiven Ansätze nutzen, um sie weiterzuentwickeln.

Literatur:
Ute Holzkamp-Osterkamp, Motivationsforschung 2, Campus 1996
André Green, „Die tote Mutter“ in Anita Eckstädt: Die Kunst des Anfangs. Psychoanalytische Erstgespräche, Suhrkamp 2000